Stefan kam kurz vor seinem 16. Geburtstag in die 11. Klasse. Er war Schüler an einem renommierten Jungengymnasium, das von einem sehr konservativen Geist geprägt war. Es gab viele ältere Lehrer, auch die Erziehungsmethoden waren recht altmodisch. Der Eintritt in die Oberstufe erschien ihm als bedeutender Schritt auf dem Weg zum Erwachsen werden. Am ersten Schultag nach den Sommerferien ging er sogar mit einem gewissen Stolz morgens zur Schule. Er machte sich normalerweise nicht allzu viel aus der Schule, zählte aber durchaus zu den besseren Schülern, sodass er weder bei den Lehrern noch bei den Mitschülern einen schlechten Stand hatte.
Wie immer war die Sitzordnung zu Beginn des Schuljahres ein wichtiges Thema. Zu seiner Linken saß schließlich Andreas Eckenberg, sein bester Freund, und zu seiner Rechten Sabine Haustein, das einzige Mädchen in der Klasse. Noch während er mit Sabine darüber spekulierte, ob sie erneut Herrn Leyendecker als Klassenlehrer bekommen würden, öffnete sich die Klassentür und eine eins achtzig große, üppige Blondine von schätzungsweise 30 Jahren kam auf hohen Hacken herein geklackert. Wahrscheinlich hätte es sich gelohnt, in diesem Augenblick die Gesichter der Schüler zu fotografieren. Eine Frau? Bis zu diesem Zeitpunkt konnte Stefan sich Frauen allenfalls als Grundschullehrerin vorstellen, aber in der Oberstufe eines Jungengymnasiums? Vollkommen ausgeschlossen! Wenn es wenigstens eine alt jüngferliche Lateinlehrerin gewesen wäre, aber eine so junge und attraktive Frau?
Ihre pädagogische Einstellung mochte möglicherweise zum konservativen Image der Schule passen, aber ihre Bluse war eng, ihr blauer Rock kurz und ihre Absätze hoch genug, damit etliche der 15, 16-jährigen Jungs einen etwas verhangenen, glasigen Blick bekamen. Sie stellte sich als Frau Dietrich vor und nahm vom Schockzustand der halbwüchsigen Schüler weiter keine Notiz. Die eingetretene Stille nutzte sie, um wie am ersten Unterrichtstag üblich den Stundenplan bekannt zu geben und, wer welches Fach unterrichten würde. Der nächste Schreck erfolgte, als mitgeteilt wurde, dass Frau Dietrich die Klasse nicht nur in Englisch unterrichten würde, sondern auch in Sport. Außerdem sollten sowohl Deutsch als auch Mathematik und Chemie jeweils von einer weiblichen Lehrkraft unterrichtet werden. Was war denn mit der Schule los? War der Direktor verrückt geworden?
Es folgte dann noch die Wahl zum Klassensprecher, bei der wie im Vorjahr Ulf Zimmermann gewählt wurde, und schließlich hielt Frau Dietrich noch eine kleine Ansprache, die kaum dazu angetan war, die Jungs wieder zu beruhigen. Sie brachte zwar zum Ausdruck, dass sie sich freuen würde, die Klasse zu leiten. Ließ aber auch Bemerkungen darüber fallen, dass die Anwesenden sich bekanntlich in einem kritischen Alter für Jungs befänden und eine feste Hand bräuchten, die sie ihnen zu geben gedächte. Natürlich wurde nach der Stunde noch ausführlich über die neue Klassenlehrerin diskutiert, bevor alle ziemlich aufgekratzt nach Hause gingen.
Stefans vierzehnjährige Schwester Bettina hatte ihre Freundin Vanessa mitgebracht, mit der sie zusammen ein Mädchengymnasium in der Nähe seiner Schule besuchte. Sie waren ebenfalls gerade dabei, angeregt über ihre neue Sitzordnung und ihre neue Klassenlehrerin zu sprechen. Beim Mittagessen fragte Stefans Mama nach, ob sie wieder Herrn Leyendecker bekommen hätten.
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Schlaubi -
22. Oktober 2023 um 11:30 -
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