Der Schrei der Eule - oder Opa Hermann und mein 13. Geburtstag

Kurzgeschichte über die Lust am schmerzenden Popo. Autor: Billenkieker

1971 starb mein Papa, da war ich 12. Es war irgendwas mit dem Herz, und nach einem Mittagsschlaf an einem Sonntag ist er einfach nicht wieder aufgewacht. Natürlich waren wir alle furchtbar traurig, dass er nicht mehr da war, besonders Mama. Und bald merkte Mama auch, dass sie nicht genug Geld hatte, um alles zu bezahlen. Sie arbeitete ja nicht, und Papas Rente war auch nicht viel, weil er ja noch so jung war, als er starb. Mama hat gesagt, dass Papa versichert war, dass die aber nicht bezahlen wollten. Weil Papa doch gewusst hatte, dass etwas mit dem Herzen nicht gut war. Und wir hatten ja das Haus gebaut, das auch bezahlt werden musste.

Am Anfang half uns Opa Hermann, also Papas Vater, aber irgendwann entschied Mama, dass sie das Haus verkaufen musste. Und weil Opa ja ganz allein in einem großen Haus und nur 20 km entfernt wohnte, zogen wir zu ihm. Das war das Beste für alle, denn so konnte Mama sich um uns, den Haushalt und Opa kümmern, und der hatte genug Geld für die ganze Familie. Und das Haus war riesig. Kristina, Stefan und ich hatten sogar jeder ein eigenes Zimmer. Und Mama natürlich auch. Aber Mama sagte uns eben auch, dass wir Opa nicht stören und nicht im Haus herumtoben sollten. Und dass wir folgsam und artig sein sollten, wenn er uns was sagte. Ich hatte schon immer schon ein bisschen Angst vor Opa Hermann gehabt. Er lächelte so selten und war immer so ernst und gar nicht, wie man sich einen Opa vorstellt. Ganz anders als Mamas Eltern, aber die wohnten weit weg und hatten auch nur eine kleine Wohnung zur Miete. Opa Hermann trug immer Anzug, Hemd und Krawatte, auch beim Essen oder abends im Wohnzimmer. Und wenn er da war, waren alle anderen irgendwie immer ganz leise. Mama hat erzählt, dass er früher einmal Vorstand in einem ganz großen und wichtigen Unternehmen war und ganz viele andere wichtige Menschen kannte. Politiker und so. Und dass er immer noch Geld von seiner Firma kriegte, obwohl er da ja gar nicht mehr arbeitete. Aber auch sie lachte viel weniger seit Papas Tod, und eigentlich gar nicht mehr, seit wir zu Opa gezogen waren. Und Opa selbst sagte eigentlich auch fast nie etwas. Meistens saß er in seinem Arbeitszimmer, las oder schrieb und rauchte Pfeife. Mit uns Kindern redete er fast nur, um uns etwas aufzutragen oder zu verbieten.

Vielleicht drei Wochen nach unserem Umzug, am Tag vor meinem 13. Geburtstag, wollte Stefan seinen Spargel nicht aufessen. Freundlich erklärte Mama ihm, dass Spargel etwas ganz Feines war, und viele Menschen sich so etwas Gutes gar nicht leisten konnten, und dass es sich deshalb nicht gehörte, den Teller nicht leerzuessen. Aber Stefan wollte eben nicht, und irgendwann haute er die Fäuste auf den Tisch und rief: "Ich esse den Scheiß nicht!" Mama schimpfte zwar ein bisschen mit ihm, aber sie nahm seinen Teller und gab den Spargel uns Mädchen, sodass er ihn nicht essen musste. Opa Hermann hatte dem ganzen zugesehen, als ob wir Marsmenschen waren. Zusammengekniffener Mund, angewiderter Blick und ein beständiges Kopfschütteln. Man konnte geradezu fühlen, wie empört er über das Verhalten meines achtjährigen Bruders war. Aber er sagte wie üblich kein Wort.

In der Nacht wachte ich kurz auf, weil etwas gehört hatte. Einen merkwürdigen Laut, einen krächzenden Schrei oder so etwas. Vielleicht eine Eule? Im Garten hinten war ja ein richtiger Wald. Aber bevor ich darüber nachdenken konnte, war ich auch schon wieder eingeschlafen. Am nächsten Morgen hüpfte ich die Treppe runter und in das Esszimmer. Wir sollten ja nicht toben, aber es war doch mein 13. Geburtstag, und wir mussten nicht zur Schule, weil die Ferien angefangen hatten, und ich war sooo gespannt, ob Mama mir die neue Reithose gekauft hatte, die ich mir sooo sehr gewünscht hatte. "Mal sehen..." hatte sie gesagt, aber dabei gelächelt, sodass ich mir fast sicher war, dass ich sie bekommen würde.

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