Die blinde Passagierin

Kurzgeschichte über die Lust am schmerzenden Popo. Autor: Leo

Isabelle sitzt in einer Nische des Frachtraums der SS Borrow II, die von Bremerhaven nach Halifax fährt. Die Ladung des Güterschiffs besteht aus Containern. Der Frachtraum im hinteren Teil des Schiffes ist leer. Oder eben: dort ist Isabelle, welche gestern in einem unbeobachteten Moment das Schiff betrat. Sie ist eine blinde Passagierin. Die Sache ist deswegen gut, weil in der Nähe des Frachtraums eine Toilette ist, welche kaum benutzt wird, aber Isabelle die Möglichkeit gibt, die natürlichen Bedürfnisse zu befriedigen und sich etwas frisch zu halten. Ebenfalls findet sich in der Nähe die Lebensmittelvorratskammer, aus der sich Isabelle vorsichtig, damit niemand etwas merkt, bedient. Isabelle ist es aber nicht wohl: Die Luft ist schlecht, sie langweilt sich und sie weiß immer weniger, wie sie in Halifax unerkannt das Schiff und dann den Hafen verlassen soll. Die vergangene Nacht brachte sie an den Rand der Verzweiflung und seit Stunden spielt sie mit dem Gedanken, sich zu stellen. Nein, sie will nicht die Nerven verlieren!

Es ist gegen Abend. Der Entscheid, wie sie sich weiter verhalten soll, wird ihr einstweilen abgenommen, denn zwei Matrosen haben den Frachtraum betreten und zu ihrem Erstaunen die blinde Passagierin entdeckt. Sie führen diese ins Freie, wo eben der Kapitän steht. Isabelle zittert. Innerlich ist sie aber froh, dass der Spuk ein Ende findet. Isabelle ist 25 Jahre alt. Sie ist zwar nicht reich, doch hätte sie sich die Überfahrt oder einen Flug nach Kanada leisten können. Ein Gemisch aus Abenteurertum und Sparsamkeit ließ sie zur blinden Passagierin. Aber: "Geiz ist geil" stimmt so nicht.

Der Kapitän ist unsicher, was er tun soll. Grundsätzlich sollte er den nächsten Hafen anlaufen und Isabelle der Hafenbehörde übergeben. Das behagt ihm nicht. Der nächste Hafen, der groß genug ist, die SS Borrow II einlaufen zu lassen, ist sieben Stunden entfernt. Ein riesiger Umweg! Und wem dient dies?

Also mimt der Kapitän zunächst den starken Mann und fordert Isabelle auf, sich auszuziehen. Diese blickt ihn erstaunt an und wird belehrt, der Kapitän müsse sich überzeugen, dass Isabelle kein Diebesgut in und unter den Kleidern trage. Dies ist natürlich Blödsinn, doch die verdatterte blinde Passagierin leistet keinen Widerstand und steht bald völlig nackt im Kreis von zwei Dutzend Männern und zwei Frauen. Die Frauen sind die Ehegattinnen des Kapitäns und eines weiteren Seeoffiziers.

Was soll ich mit dir tun? Das fragt der Kapitän nicht nur rhetorisch, sondern auch, weil er es wirklich nicht weiß. Eine junge Frau an Bord ist explosiv. Der eine oder andere Matrose sieht einen Weiberschoss und einen Busen nur selten direkt in natürlichem Zustand. Das könnte dumme Gedanken wecken. Das war auch einer der Gründe, weshalb der Kapitän die junge Frau zwang, sich vor der Mannschaft völlig nackt zu machen. So wissen nun alle, welche Grundqualitäten Isabelles Körper auszeichnen.

Isabelle stottert. Sie schämt sich und hat Angst. Sie bittet, an Bord bleiben zu dürfen und nicht über die Reling gehen zu müssen. Der Kapitän muss sich unter Kontrolle halten, damit er nicht heraus lacht. Die Zeiten sind vorüber, als Seeräuber, Nichtsnutze und anderes Gesindel dem Wasser übergeben wurden, auf dass sie ertrinken oder auf einer einsamen Insel stranden. Dann sagt Isabelle leise und überraschend, der Herr Kapitän könne sie stattdessen auspeitschen. Der Kapitän blickt sie erstaunt an. Die junge Frau las offenbar zu viele Seeräuberromane.

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