Ännchen

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    Rainer
    5. Mai 2024 um 15:16
    Zitat

    Anne von Thurnau, genannt Ännchen, schob kurz den Vorhang beiseite, um nach draußen zu spähen. Seit dem Verbot von Privatautos vor zehn Jahren waren Besucher selten geworden auf Gut Thurnau. Es konnte eigentlich nicht der Pfarrer sein, die vierzehntägige Aufwartung pflegte er stets an einem Donnerstag zu machen, nicht an einem Mittwoch. Zu ihrer Überraschung war es dennoch Vater Ignaz, wie er sich nannte, ein Ordenspriester, der für ein paar Jahre die Pfarrei von Thurnau übernommen hatte. Mit dem dramatischen Zusammenbrechen der Verkehrsstrukturen waren plötzlich die Pfarrgemeinden viel zu groß geworden, und so hatte man eilig neue Pfarreien gegründet, und sie mit Ordenspriestern besetzt. Mit der neuen Ökomoral war auch eine neue Religiosität in das Land gezogen. Mystische Rückbesinnung auf mittelalterliche Lebensformen bescherten den Kirchen volle Gotteshäuser und ihren Vertretern neue Macht.

    Vater Ignaz, ein kräftiger, rothaariger Mann irgendwo zwischen dreißig und fünfzig, warf die Zügel seines Einspänners dem Stallburschen zu, der eilig herangelaufen kam. Zunächst würde Bruder Ignaz den Dienstboten die Beichte abnehmen und ihnen den Segen spenden.

    Anne öffnete die Tür, vor der Vater Ignaz sich bereits den Schnee von den derben Stiefeln stampfte. „Kommen sie herein“, bat sie, Ihnen ist bestimmt kalt. „Ach, es ist doch herrlich bei klarem Wetter durch den Schnee zu fahren, vom Alten Deibel kann man bis nach Polen herüberschauen.“ „Ich, er, also Vater und Mutter sind leider nicht da, Vater sitzt zu Gericht und Mutter ist zum Einkaufen mitgefahren.“ „Ja, ja, ich bin ja auch einen Tag früher als sonst, aber bei den Grizsibowskys musste ich einen kleinen Wurm taufen, vom keiner glaubte, dass er es überstehen würde. Dank Gottes Gnade hat er nun doch seinen Weg in diese Welt gefunden, der Herrgott wird also noch ein Weilchen auf ihn verzichten müssen. Wo ich aber nun schon mal in der Gegend war, wollte ich auch gleich bei Ihnen hereinschauen.“ „Bleiben Sie zum Essen?“ „Wenn es keine Umstände macht?“ „Nein, keineswegs, sagen Sie nur Marie Bescheid, damit sie ein Gedeck mehr auflegen lässt.“ „Ich hoffe, sie können ihre Angestellten für eine halbe Stunde entbehren?“ „Aber ja, jetzt im Winter macht das überhaupt nichts aus, nur Marie wird vielleicht auf ihre Töpfe aufpassen müssen.“

    Mit zweiundzwanzig Jahren beherrschte Anne längst die Kunst, eine gute Gastgeberin zu sein und höfliche Sätze auszutauschen. Wie selbstverständlich geleitete sie den Pfarrer nach hinten in die Küche, wo sich das halbe Dutzend Hausangestellte bereits versammelt hatte. Durch die doppelte Hintertüre kamen gerade auch Willi, der Stallbursche, und die beiden Arbeiter Alfred und Paul herein. Sie kneteten ihre Mützen in den Händen und begrüßten den Seelenhirten mit offensichtlicher Freude.

    Auf Veränderung zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten.
    (Albert Einstein)

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