Es war Anfang der Siebziger, Daniel Schreiber war in der zehnten Klasse, und seine Versetzung war wieder einmal gefährdet, gerade in Latein hatte er große Schwierigkeiten. In der siebten Jahrgangsstufe hatten sich die Schüler des naturwissenschaftlichen Zweiges für eine zweite Fremdsprache entscheiden müssen, er hatte Latein gewählt, es sollte wesentlich leichter sein als Französisch. So war es auch anfänglich. Aber im vierten Jahr Lateinunterricht nahmen seine Leistungen rapide ab. In der ersten Klassenarbeit, eine Rekapitulation des Stoffes des vorherigen Jahres, bekam er noch eine zwei, aber seine Noten verschlechterten sich kontinuierlich. In der zweiten Arbeit bekam er eine drei, in der dritten war es eine vier. Wenn es so weiter gehen würde, käme als Nächstes eine fünf und schließlich eine sechs. In seinem Zwischenzeugnis gab es eine entsprechende Bemerkung. Da es auch in Englisch und Geschichte nicht zum Besten stand, beschloss Frau Schreiber, rechtzeitig genug dem Abstieg etwas entgehen zu halten. Sie organisierte eine Nachhilfe für ihn.
„Das ist Daniela“, stellte sie ihm eines Nachmittags eine junge, hoch aufgeschossene Frau vor. „Sie wird dir Nachhilfe geben, in Latein.“ Daniel war am Ende seiner Pubertät, mit der Grund für den Niedergang seiner schulischen Leistungen. Mädchen begannen ihn zu interessieren. Bisher waren die weiblichen Figuren seiner Imagination fiktive Gestalten gewesen, eventuell war die eine oder andere von einer realen Persönlichkeit inspiriert gewesen, aber jetzt wurden einige seiner Klassenkameradinnen zu den Objekten seiner Fantasien. Fantasien, für die er sich nicht wirklich schämte, so lange sie geheim blieben. Aber es gab Situationen, da wagte er nicht einmal, daran zu denken. So wie jetzt, als er versuchte, grimmig zu wirken, aber es gelang ihm nicht, seine Betretenheit zu verbergen. Sein Blick kam von unten, und er nahm von Daniela nicht mehr wahr wie ihre blonden Löckchen und dass sie recht hochgewachsen war. Dennoch empfand er sie als schön, eigentlich ein ideales Opfer, und das machte es besonders unangenehm, dass sie eine ihm übergeordnete Rolle einnehmen sollte. Sie war gerade mal drei, vier Jahre älter als er, aber dieser Altersunterschied war ausreichend, damit Daniel sich klein und unterlegen fühlte. Nun lächelte sie ihn freundlich an und konnte nicht ganz verbergen, dass sie recht nervös war. Für sie war es auch das erste Vorstellungsgespräch.
„Seine Leistungen lassen immer mehr nach“, sagte Frau Schreiber mit einem kurzen Blick auf ihn. Daniel fühlte sich unangenehm berührt, dass in der dritten Person über ihn gesprochen wurde. Daniela nickte verständnisvoll. Noch immer ruhte ihr Blick aus den großen, hellen Augen auf ihm, sehr freundlich, aber das nahm Daniel nicht wirklich war. „Seine Versetzung ist gefährdet. Deutsch und Geschichte ungenügend. Auch in Englisch wird er schlechter. Aber gerade in Latein baut er kontinuierlich ab. Ihm droht eine sechs. Ich hoffe, Sie können etwas dagegen unternehmen, Daniela. Er ist in der Zehnten, dann hätte er wenigstens die Mittlere Reife. Mit dem Abitur muss er sich dann nicht mehr herumärgern.“ Die heranwachsende Jugendliche nickte wieder. Ihre Stimme war glockenhell und sehr sanft. „Ich will gucken, was ich machen kann. In Latein muss man sehr fleißig sein. Die ganzen unregelmäßigen Verben auswendig lernen. Und das Übersetzen muss man üben, üben, üben.“ Daniela lachte leise. Es sollte ein freundliches und mitfühlendes Lachen sein, dass Daniel von seinem Unbehagen befreien sollte. Aber fühlte sich ausgelacht und unwohler denn je. „Fleiß ist nicht gerade Daniels Stärke. Aber ich hoffe, Sie können ihn motivieren.“
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November 6, 2022 at 1:01 PM -
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